Trauerrede


von Prof. em. Dr. Jürgen Zimmer für Hansi Holyst

Berlin, 18. Dezember 2017

"Des is ois a Wahnsinn!"

Liebe Steffi, liebe Familie, liebe Freunde,
"Ich höre auf zu leben, aber ich habe gelebt." Dies Zitat aus Goethes "Egmont" steht auf der Traueranzeige, mit der die Familie mitteilt, dass Hansi gestorben ist. Da ist plötzlich ein riesengroßes dunkles Loch, Trauer und Schmerz, Leere und Verzweiflung. Man kann das nicht wegräumen, man muss damit leben. Aber ich denke, dass es Hansi nicht gepasst hätte, sich dem Schmerz hinzugeben, auch bei dieser Zusammenkunft nicht.

Jeder von uns kann Geschichten erzählen über die Begegnungen mit ihm, es sind persönliche Geschichten. 'Dein' Hansi und du. 'Mein' Hansi und ich. Was waren das für Zeiten mit ihm!

Der französische Philosoph Andre Gorz hat in den 1960er Jahren an die Revolution geglaubt: Der Aufstand der Arbeiter sollte den Weg zu einem Land freimachen, in dessen Flüssen Milch und Honig fließen. Die Arbeiter machten aber nicht das, was Gorz wollte. Da änderte er seine Theorie: Man müsse kleine Inseln des Glücks schaffen, und je mehr solcher Inseln es gäbe, desto mehr würden die Konturen einer paradiesischen Gesellschaft sichtbar werden. Mit dieser Theorie, die mir besser gefällt, nähern wir uns Hansi.

Denn er und Steffi haben mit dem "Wiener Stüberl" eine kleine, feine Insel der Glückseligkeit geschaffen, deren Zauber man schon beim Eintritt erliegen konnte: die herzliche Begrüßung, Hansi hinter dem Tresen damit beschäftigt, Gläser zu säubern, dann sich die Hände abtrocknend, die Umarmung, Bussi links und rechts, der Duft nach Wiener Schnitzel und Szegediner Gulasch, ein Bier und noch ein Bier oder einen Blaufränkischen. Das Lokal ein lebendiges Museum: Photos, Hansi mit Prominenten, Weinflaschen im Regal, Holzgeschnitztes aus Bali, ein Klavier, und wenn man sein Riesenschnitzel und den Kartoffelsalat bewältigt hatte und nichts mehr ging, dann doch noch der Palatschinken und "nein, Hansi, ich muss noch fahren!" - der Marillenbrand. Eine Zeit lang war ja Engelchen da, der als Gesamtkunstwerk wartende Taxifahrer.

Man kannte sich unter den Gästen im "Wiener Stüberl" oder auch nicht. Manche kannte man halb, manche an ihren Ritualen: den Rosenkavalier zum Beispiel, der mit einem großen Strauß hereinkam, um ihn dann unvermittelt einer Dame seiner Spontanwahl zu überreichen, egal, ob deren Begleiter davon entzückt war oder nicht. Oder Uwe, unser schwergewichtiger Uwe, der wilde Geschichten erzählte, in denen oft böse Männer umgehauen wurden oder der berühmte Dirigent samt einigen Mitgliedern des berühmten Orchester mit Uwes Damen Lust erlebte; es waren Geschichten mit hohem Unterhaltungswert, von denen Hansi meinte, sie würden ganz und gar nicht stimmen. Aber das war eigentlich egal.

Das "Wiener Stüberl" mit Hansi erinnert an den Film "Smoke": Harvey Keitel, genannt "Auggie", als Besitzer eines Tabakladens an einer Straßenecke in Brooklyn, dessen Stammkunden ihre Geschichten hinein- und auch wieder heraustragen. Hansi als "Auggie" vom "Wiener Stüberl": Manchmal ging es bei ihm und Steffi - und wie beide meinten: besonders bei Vollmond - wie in einer psychotherapeutischen Praxis zu, nur die Kassenzulassung fehlte, aber geholfen haben die beiden trotzdem, wo sie konnten.

Das "Stüberl" war der Ausgangsort für Erkundungen in ganz verschiedene Welten. Ohne die dort geknüpften Netzwerke wären einige von uns nicht nach Handorf in die Lüneburger Heide gefahren, um dort Lothar Winklers 70. Geburtstag zu feiern, hätten wir Lothars Geschichten über den "Klimbim"-Star Ingrid Steeger nicht gehört, wäre Fritz Kurz nicht im Gasthaus des nächtlichen Nachbardorfs in ein falsches Schlafzimmer gestolpert, weil er nicht nur das Schlafzimmer, sondern das ganze Dorf verwechselt hatte. Gitte hätte auch nicht zur Mitternacht a cappella ihr Lieblingslied "Ol' Man River" so von Herzen gesungen, als säße ihr Vater daneben und würde die Gitarre spielen. Lothar, Gitte und Fritz wären auch nicht bei Birzana auf Bali gelandet, und ohne das "Wiener Stüberl" hätte sich Gitte auch nicht auf einem schmalen Pfad zwischen balinesischen Reisfeldern den Knöchel verrenkt.

Weil Steffi gute zwanzig Jahre meine Sekretärin war und ich als Hochschullehrer das "Wiener Stüberl" zu einer Art Außenstelle der Freien Universität erklärt und jede Menge  Besprechungen dorthin verlagert hatte, wurde es auch zur Leitstelle eines von Studentinnen und Studenten überlaufenen Seminars mit dem Titel "Berlin Underground". Angehende Sozialpädagogen sollten lernen, ihre Klienten aufzusuchen, statt in Amtsstuben auf sie zu warten. Einige Stammgäste des "Wiener Stüberl" wurden zu Lehrenden und öffneten Türen. Wie spricht man als aufgebrezelte Studentin an der Straße des 17. Juni mit Kunden, mit denen man persönlich nichts am Hut hat?

Santo, Kampfsport-Trainer, war einer der Gastdozenten fürs Probeschießen in den Katakomben von Wandlitz oder für den Besuch im Vereinslokal der Hell's Angels in Moabit. Es passte zusammen, was sonst nicht zusammen passt: eine Kampfsportveranstaltung mit Andre Mewis und mit Birzana, die als balinesische Tänzerin die Prozession der Kämpfer zum Ring anführte und, während die Männer sich im Ring im Kreis niederknieten, einen  Eröffnungstanz zelebrierte und Blumen in den Ring warf. Es war danach - fast wie bei einer Meditation - mucksmäuschenstill in der Halle.

Die Philosophie Hansis bestand aus zwei Erkenntnissen. Erstens: Im Grunde sind wir alle gute Menschen. Und falls sich einer aufplustert und eine Fassade errichtet, musst du ihn abschminken und durch die Fassade hindurch direkt mit dem inneren Kern - Psychologen würden sagen: dem inneren Kind - reden. Zweitens: "Des is ois a Wahnsinn!"

Hansi, der Freund mit einem von beeindruckendem Kraushaar umrahmten Kopf, der ehemalige Solotänzer im "Fiddler On The Roof", der Kunst- und Turmspringer, der mit dem "Wiener Stüberl" ein kleines Universum schuf, hat viele Spuren gelegt. Es ging dort in den letzten Jahren ein bisschen ähnlich zu wie in Haydns "Abschiedssymphonie". Da geht im letzten Satz ein Musiker nach dem anderen. Und auch im "Stüberl" wuchs die Galerie der Ahnen. Es verabschiedeten sich für immer Lothar Winkler, Heinz von Nauhuys, Will Tremper, Brigitte Mira, Johannes Heesters, Kai Rautenberger, Paul Kuhn, Gunter Gabriel, Irene Mann, Gunther Philipp, Klaus Jürgen Wussow, Bubi Scholz, Susanne von Almassy, Uwe Uhlmann und Christian Woelffer. Und nun er. 

In den mittelalterlichen Beschreibungen von Himmel und Hölle wird die Hölle farbenprächtig und gruselig ausgestaltet. Der Himmel ist eher langweilig. Dem Alois Hingerl, dem "Münchener im Himmel", Steffi wird sich erinnern, hat es gar nicht gefallen. Hosianna singen und Manna trinken - wer will das schon. Aber in Hansis Himmel geht es anders zu. Steffi schreibt: "Mit all diesen lustigen Engeln aus dem 'Stüberl' kann Hansi jetzt tanzen, quatschen, trinken und Spaß haben." 

So kann es sein.

Prost Hansi!